Deutschland zu verzeihen sollte denen vorbehalten sein, die unter Deutschland gelitten haben.

Interview mit Marlene Dietrich, 1966, von dem Journalisten Paul Giannoli/„Le Nouveau Candide“ (gekürzt)

Glauben Sie nicht, dass es besser wäre, einen Strich unter das NaziSystem zu ziehen, zu vergessen und nur noch an das neue Deutschland zu denken?

Nein. Alle diese Schrecken sind noch zu nah. Wie kann man diese Verbrechen vergessen, solange sie in der Erinnerung der Täter und Opfer weiterleben …

Es könnte doch sein, dass das deutsche Volk getäuscht und verführt worden ist. Nicht alle Deutschen waren Nazis.

Aber fast alle wussten, was vor sich ging. Wie konnte man denn übersehen, dass es Konzentrationslager gab? Jeden Tag wurden in jeder Stadt von der SS und der Gestapo Männer und Frauen verhaftet, die schrien, die weinten, die man über das Pflaster schleifte. Haben die Deutschen das nicht gesehen? Haben sie keine Fragen gestellt? Was geschah mit den Menschen, die die Polizei abführte und die man nie wiedersah?

Wo waren Sie denn zu jener Zeit?

In den Vereinigten Staaten.

Wie können Sie Ereignisse beurteilen, die Sie gar nicht selbst miterlebt haben?

Wir erfuhren es von den Deutschen, die vor dem Hitler-Regime geflohen waren – über die Schweiz, als Mönche oder Frauen verkleidet. Ich habe jemandem in der Schweiz Geld geschickt, der Menschen bei der Flucht aus Deutschland half.

Wann kam dieser Hass gegen die Nazis über Sie?

1933, an Bord der „Europa“. Ich kam gerade von Filmaufnahmen aus den USA. Wir saßen bei Tisch, als einer der Kapitäne uns aufforderte aufzustehen, weil im Radio eine Rede von Hitler übertragen wurde. Ich habe mich als letzte vom Tisch erhoben. Ich hatte Hitlers Stimme nie zuvor gehört, sie machte mir Angst. Ich sah die Fahne mit dem Hakenkreuz im Wind flattern und etwas zerbrach in mir. Ich bat darum, in Cherbourg von Bord gehen zu können, ich wollte nicht nach Deutschland zurückkehren.

Ihre Reaktion war demnach rein gefühlsmäßig?

Ich war sehr jung, ohne politische Erfahrung, ich wußte nicht, ob es schlecht oder gut war, wenn Hitler an die Macht käme. Die Stimme machte mir Angst, was er sagte, war mir zuwider, und ich wusste, dass er die Juden umbringen ließ, bloß weil sie Juden waren. Das reicht, um Hitler zu hassen und Deutschland abzulehnen.

Ist Deutschland für Sie gestorben?

Nein, das wäre unmöglich. Ich bin jetzt amerikanische Staatsbürgerin. Aber ich kam in Deutschland zur Welt. Das lässt sich nicht leugnen.

War es nicht eine Provokation, 1960 nach Berlin zurückzukommen?

Nein, das war ein Vertrag. Auf der Straße waren Leute mit Plakaten. Darauf stand „Marlene go home“. Und Männer riefen in die Menge, dass ich dabeigewesen sei, als Franzosen deutsche Soldaten ermordet hätten. Sie seien keine Hitler-Banditen gewesen, sondern Frontsoldaten.

Trugen Sie den Orden der französischen Ehrenlegion?

In Berlin hätte ich am liebsten zwei getragen.

Wie lange haben Sie in der amerikanischen Armee gedient?

Drei Jahre. Ich habe an allen Feldzügen teilgenommen, in Italien, Belgien, Deutschland. Als Freiwillige.

Sie hätten damals bedenkenlos und ohne Gewissensbisse Deutsche töten können?

Je mehr man damals tötete, desto schneller kam das Ende.

Hatten Sie niemals das Gefühl, dass Ihnen die deutschen Toten näher standen als die amerikanischen Toten?

Ich bin dabeigewesen, als unschuldige Soldaten für eine Sache starben, die nicht die ihre war, die ein Land verteidigten, das nicht ihr Heimatland war. Die Deutschen kämpften für Hitler. Aber die jungen Amerikaner kämpften für die Freiheit anderer. Amerika hatte überhaupt keinen Grund, in den Krieg einzutreten. Dennoch hat es seine Soldaten geschickt. Deshalb bewunderte, liebte und beweinte ich sie.

Und als die Bomben der Fliegenden Festungen auf Berlin, Hamburg und Köln fielen und Tausende von Zivilisten töteten – war Ihnen das auch gleichgültig?

Wir waren im Krieg. Ich war für alles, was dazu diente, diesen Krieg schnell und zu unseren Gunsten zu entscheiden. Wie sollte mein Herz zerreißen, als Hamburg bombardiert wurde, wenn es doch schon zerrissen war, als die Bomben auf London fielen. Ich war auf der Seite der Unschuldigen, sie mussten gewinnen.

Es wird aber eines Tages doch notwendig sein, Deutschland zu verzeihen.

Deutschland zu verzeihen sollte denen vorbehalten sein, die unter Deutschland gelitten haben.

 

Quelle:

http://baustein.dgb-bwt.de/PDF/C8-Marlene.pdf

 

 

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