Afghanistan – Wir müssen anfangen menschlicher zu werden!
Ein Gastbeitrag von Antje Haugg
Heute weiß ich, ich war naiv.
Ich bin kein politischer Mensch. Dachte ich zumindest immer. Ich überlasse die große Bühne lieber anderen Leuten, die sich dort wohler fühlen. Am liebsten würde ich in meinem Mikrokosmos einfach so vor mich hin werkeln, nach dem Motto »leben und leben lassen«.
Aber irgendwie funktioniert das nicht. Nicht mehr.
Als wir in der Schule, vor etwa 35 Jahren, im Geschichtsunterricht vom Hitler hörten, da wurde uns gesagt, dass wir aus der Geschichte lernen müssen, damit so etwas nie wieder passiert.
Damals war ich überzeugt davon, dass wir daraus gelernt haben und noch lernen. Dass diese dunkle Geschichte wirklich Geschichte ist und bleibt.
Dass unsere Gesellschaft als Ganzes sich zu etwas Besserem mit höheren moralischen Ansprüchen hin entwickelt.
Heute weiß ich, ich war naiv.
Aber heute habe ich es getan. Bin mitgelaufen mit den Menschen, die gegen Abschiebungen nach Afghanistan auf die Straße gegangen sind. Habe in den Augen Angst und Verzweiflung gesehen, Hilflosigkeit und trotzige Entschlossenheit.
Damals hätte ich mir nie vorstellen können, dass so viel Hass wie aktuell jemals unser Land überfluten würde.
Damals hätte ich mir nie vorstellen können, dass Asylrecht nicht selbstverständlich ist, sondern nach Belieben und politischem Kalkül aufgeweicht, verdreht und verbogen werden kann.
Damals hätte ich mir auch nie vorstellen können, dass ich auf Demonstrationen mitlaufe gegen Abschiebungen in angeblich sichere Herkunftsländer.
Aber heute habe ich es getan. Bin mitgelaufen mit den Menschen, die gegen Abschiebungen nach Afghanistan auf die Straße gegangen sind. Habe in den Augen Angst und Verzweiflung gesehen, Hilflosigkeit und trotzige Entschlossenheit.
Und die ganze Zeit über dachte ich mir, dass es falsch ist. Nicht dass wir demonstriert haben, sondern dass es so weit gekommen ist, dass wir demonstrieren müssen für die Menschlichkeit, die doch eigentlich selbstverständlich sein sollte.
Wie kann es sein, dass Menschen zurückgeschickt werden sollen, die sich hier gut integriert haben, sich nie etwas zuschulden kommen ließen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben? Die teilweise als Kinder ihre Heimat verlassen haben und sich mittlerweile vielleicht gar nicht mehr erinnern können an ihr Herkunftsland, weil sie schon so lange auf der Flucht waren?
Wie kann es sein, dass Politiker Afghanistan als sicheres Land bezeichnen, wo doch gleichzeitig das Auswärtige Amt etwas ganz anderes sagt? Wie kann es sein, dass diese Politiker auf Nachfrage nicht konkret sagen können, welche denn die angeblich sicheren Regionen sein sollen?
Wie kann es sein, dass Menschen zurückgeschickt werden sollen, die sich hier gut integriert haben, sich nie etwas zuschulden kommen ließen, die hier ihren Lebensmittelpunkt haben? Die teilweise als Kinder ihre Heimat verlassen haben und sich mittlerweile vielleicht gar nicht mehr erinnern können an ihr Herkunftsland, weil sie schon so lange auf der Flucht waren?
Es ist falsch. Das alles fühlt sich so falsch an. Und auch dass wir überhaupt demonstrieren mussten, ist schon falsch.
Richtig wäre, wenn diese Leute hierbleiben dürften, bis Afghanistan wirklich sicher geworden ist. Und richtig wäre, wenn wir viel mehr Engagement aufbringen würden, um die Herkunftsländer zu Ländern zu machen, aus denen niemand mehr flüchten muss.
Dieses Grinsen empfinde ich wie einen Lanzenstoß.
Ich laufe also weit über eine Stunde mit. Höre die Parolen, die immer wieder gerufen werden. Sehe einen jungen Mann, der ein Schild hoch hält. »Afghanistan ist kein sicheres Land – keine Abschiebungen nach Afghanistan« steht darauf. Er spricht Passanten an, die neugierig stehen geblieben sind. »Hallo Leute, bitte lesen Sie das«, sagt er. Die meisten Angesprochenen schenken ihm gar keine Beachtung.
Ich sehe in die Gesichter der Menschen, die unseren Zug beobachten. Manche sind interessiert, lesen die Plakate, lassen sich vielleicht sogar auf ein Gespräch ein. Manche sind genervt, vielleicht weil sie in ihrer eiligen Einkaufshetze für einen kurzen Moment unterbrochen, ausgebremst werden. Aber wisst ihr, welche die schlimmsten Gesichter sind? Die spöttisch grinsenden. Welche Gedanken verbergen sich wohl hinter diesem Grinsen? Mitleidig-ironische wie »ach ihr armen Irren, habt ihr keine Hobbys? Oder warum lauft ihr bei dieser Kälte hier herum?« Boshafte wie »verschwindet lieber endlich wieder dahin, wo ihr herkommt«? Ich weiß es nicht, aber dieses Grinsen empfinde ich wie einen Lanzenstoß.
Warum ich das habe, dieses schlechte Gewissen? Nun, ich kann einfach gehen, kann mir sagen, dass es kalt ist und mein Rücken etwas anderes verdient hat. Kann zurück fahren nach Hause, zu meiner Familie, in meinen sicheren Alltag.
Wir laufen durch die Bayreuther Innenstadt, bleiben hier stehen, hören dort Rednern zu. Mir ist kalt, der Rücken schmerzt, und ich habe noch so viele andere Dinge zu erledigen an diesem letzten Samstag vor Weihnachten. Nach weit über einer Stunde schleiche ich mich davon, mit einem schlechten Gewissen.
Warum ich das habe, dieses schlechte Gewissen? Nun, ich kann einfach gehen, kann mir sagen, dass es kalt ist und mein Rücken etwas anderes verdient hat. Kann zurück fahren nach Hause, zu meiner Familie, in meinen sicheren Alltag.
Vielleicht werden sie weinen, vielleicht beten. Ich weiß es nicht.
Aber während ich mich davonmache, stehen am Sternplatz viele junge, aber auch ältere Männer und Frauen teils in dünnen Kunstlederjacken, ohne Handschuhe oder Mütze, bei Minusgraden, halten beschriftete Betttücher hoch, mit zitternden Händen, bibbern so, dass die Betttücher wackeln. Aber sie bleiben dort. In der Kälte, mit Angst in den dunklen Augen. Rufen ihre Verzweiflung in die Fußgängerzone hinein, wohl wissend, dass all diese Aktionen kaum etwas auszurichten vermögen. Werden heute Nacht in ihren Betten liegen, voll Angst und Ungewissheit, werden nicht schlafen können. Vielleicht werden sie weinen, vielleicht beten. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich auch nicht schlafen werde. Denn ich muss diesen Artikel schreiben. Damit ihr ihn lest und in die Welt hinaus teilt.
Wir müssen anfangen menschlicher zu werden. Und dazu ist die Weihnachtswoche wahrlich der beste denkbare Zeitpunkt.
18.12.2016 © Antje Haugg
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